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Die Substitutionstherapie aus meiner Sicht

Um zunächst mal alle auf den gleichen Wissensstand zu bringen: Die Substitutions- oder auch Drogenersatztherapie, ist jene Therapie, die Opiatabhängigen ärztlich verschriebene Opiat-Ersatzstoffe, insbesondere zu folgenden Zwecken anbietet:

Substitutionstherapie in Zahlen:

Deutschland [1]:
Schweiz [2]:
Österreich [3]:
Graz [4]:

Die Substitutionstherapie gilt als die effektivste Therapieform für Opiatabhängige. Dennoch sieht sie sich immer wieder der Kritik von Gesellschaft, Politik und Medien ausgesetzt.

Meine Sicht:

Viele lange Jahre war ich in einer Substitutionstherapie in Graz. Kaum jemand hat mich in diesen Jahren nach meiner Meinung gefragt. Egal über welche Erfahrungen und Ressourcen ich verfügte, sie waren nicht sonderlich erwünscht. Ich denke es ist Zeit nun mal meine Sicht der Dinge kundzutun.

Was schreibe ich als erstes? Und zwar bedanke ich mich. Ich bedanke mich, dass es eine derartige Einrichtung gibt. Eine Einrichtung, die mich meine Ressourcen zumindest für mich selbst verfügbar machte - die mich meine Energie nicht für Beschaffungskriminalität und oft stundenlange Suche nach dem nächsten Schuss vergeuden ließ, wie es in den ersten Jahren meiner Abhängigkeit der Fall war. Eine Einrichtung, die mir letztendlich dabei half, den Weg aus allen meinen Abhängigkeiten zu finden.

Dennoch gibt es neben den positiven Aspekten der Substitutionstherapie auch Dinge, die sehr unschön waren und die ich hier als konstruktive Kritik anregen möchte. Damit sie besser verstehen, worum es hier geht, sollte ich ihnen aber noch den bürokratischen Weg erläutern, der in Österreich für ein sogenanntes Suchtgift-Dauerrezept zu gehen ist. Dazu ein Auszug von einer amtlichen Website:

"Der Patient bekommt von einem Arzt ein Suchtgift-Dauerrezept, lässt es beim Amtsarzt überprüfen und bekommt dann täglich in der Apotheke seine Ration zur Einnahme unter Kontrolle oder wenn berufstätig mit nach Hause." "Des Weiteren hat der Patient monatlich eine Harnprobe unter Sicht abzugeben."

Bedeutet, die Stellen mit denen ein Substitutionspatient in Berührung kommt, sind vor allem der Substitutionsarzt, das Gesundheitsamt für die Bewilligung (Vidierung) des Dauerrezeptes und ein Labor, das die Harnproben nimmt. Und genau an diese Stellen richtet sich nun auch dementsprechend der Großteil meiner Kritik:

Den wohl wichtigsten Part des Substitutionsprogramms übernehmen die Substitutionsärzte. Sie haben den Kontakt zum Patienten, sie legen die Medikation fest und schlagen auch die Mitgabe der Arznei aufgrund von Urlaub oder Berufstätigkeit vor. Sie tragen dadurch große Verantwortung und genau hier liegt auch schon das erste Problem:
Viele Ärzte verstehen viel zu wenig davon, was ein Opiatabhängiger leisten kann und was nicht. Mit welchen Dingen er cool umgehen kann und welche Dinge ihn aus der Bahn werfen. Für manche Ärzte ist der Abhängige gar ein Buch mit sieben Siegeln - wie ich auch in meinen vielen Gesprächen mit verschiedenen Ärzten erfahren musste. Und so kommt es zu Fehlentscheidungen - Fehlentscheidungen mit oft gravierendsten Auswirkungen. Eine, die mir ein Dorn im Auge ist: die Zwangsumstellung auf ein anderes Medikament oder eine andere Dosis.

Ich will hier diesbezüglich, für alle, die es nicht verstehen, einer der wichtigsten und grundlegendsten Kriterien einer Abhängigkeit erklären. Es ist so unglaublich einfach, aber wird von den allermeisten Personen doch sehr ins Unbewusste abgeschoben: Abhängigkeit ist eine ENTSCHEIDUNG. Wer glaubt mit Gewalt gegen eine Abhängigkeit vorgehen zu können, der hat keine Lösung, sondern ist Teil des Problems. Die Gewalt ist das Problem. Dieser ganze 'Den inneren Schweinehund überwinden'-Wahn ist das Problem. Ich sage immer: "Wer kann, der macht einfach." Falls es jemanden interessiert, wie das genau funktioniert, der kann das auch in meinen Büchern nachlesen.

Ich musste mehrmals am eigenen Leibe erfahren, was passieren kann, wenn ein Arzt, trotz verzweifelter Verhinderungsversuche des Patienten auf ein anderes Medikament oder eine niedrigere Dosis umstellt. Ich musste miterleben, wie es Freunde von mir aus der Bahn warf und sie kurze Zeit darauf aufgrund einer Überdosis ihr Leben ließen. Ich musste miterleben, wie mir alles zunichte gemacht wurde, was ich mir aufgebaut hatte, weil ein Arzt derart davon überzeugt war mich hinunterdosieren zu müssen. Trotz eindringlicher Warnung und exakter Vorhersage, was mir nun zustoßen würde, glaubte er mir nicht. Meine langjährige Erfahrung mit diesen Dingen interessierte ihn nicht, denn er war ja der 'Profi'. Traurig, aber so spielt das Leben. Dies ist meine erste Kritik und liebe Ärzte - falls ihr das lest - bitte lernt daraus.

Es gibt aber auch viele positive Beispiele - Beispiele, wo Dinge richtig gut funktionieren. Jahrelang predigte ich davon, dass es zu den wichtigsten Aufgaben eines Substitutionsarztes gehört, ein Gespür für den Willen eines Patienten zur Dosisreduktion zu entwickeln. Dass man sich darauf aufbauend entscheiden sollte entweder konstruktiven - und niemals belehrend - Druck auf den Patienten auszuüben oder man ihn bezüglich der Dosis ganz einfach in Ruhe lässt. Mit meinem letzten Arzt in der Substitutionstherapie, hatte ich endlich jemanden gefunden, der das so, wie eben beschrieben, handhabte. Und das funktionierte. Ich nenne das ein 'Mit-dem-Strom-Schwimmen' - im positiven Sinne selbstverständlich. Denn nichts wäre schlimmer für Arzt und Patienten, als falscher Ehrgeiz und zu hohe Erwartungen bei der Reduktion der Dosis. Manchmal dauert es eben - wie auch bei mir - Jahre bis es zu einer Lockerung der Abhängigkeit kommt. Und man muss auch so ehrlich sein und sich eingestehen, dass es nur ungefähr einer von zehn Opiatabhängigen schafft, dauerhaft von der Droge loszukommen. Und dennoch, was viele nicht verstehen: Der Abhängige weiß im Großen und Ganzen sehr wohl 'was er tut' - auch wenn er sich dessen selbst oft gar nicht so bewusst ist, oder es nicht formulieren kann. Ein Thema, über das ich auch in meinen Büchern schreibe und noch ausführlicher schreiben werde: das Thema Selbstmedikation.

Nun gut, kommen wir zu meinem nächsten Kritikpunkt. Dieser wird für gewisse Stellen und Behörden wahrscheinlich weniger angenehm zu schlucken sein. Es geht um die Einstellung von körperlich noch nicht abhängigen Minderjährigen! Ich musste leider - und das nicht nur einmal - mit Entsetzen feststellen, dass minderjährige Jugendliche, nach gerade mal wenigen Wochen Opiatkonsum, auf eine sogar hohe Dosis retardierte Morphine eingestellt wurden. Ich möchte mir hier - auch weil mir genauere Informationen fehlen - nicht anmaßen darüber ein Urteil zu fällen. Ich weiß auch, wie schwer es ist die Dauer einer Opiatabhängigkeit festzustellen. Was ich den Verantwortlichen aber sehr wohl sagen möchte, ist: Seit vorsichtig, denn hier kann sich der Staat ganz schnell selbst zum 'bösen Onkel mit der Schokolade' machen. Sehr gefährlich. Wenn ich als Abhängiger, vor einigen Jahren - bereits mit einer gewissen 'psychologischen und moralischen Vernunft' ausgestattet - einem Minderjährigen, in guter Absicht, täglich 600 mg Substitol (Morphin) verkauft hätte, hätte man mich wahrscheinlich zwei Jahre verbarrikadiert. Verstehen? Und 600 mg Substitol intravenös reicht für drei Überdosen, wenn man noch nicht so viel verträgt. Auch hier also bitte ich euch - lernt daraus.
Wenn ich eines in meinem Leben erfahren habe, dann: Bürokratie kann töten.

Mein letzter Kritikpunkt geht vor allem an das Gesundheitsamt. Immer wieder bekam ich nämlich mit, dass Patienten keine Mitgabe ihrer Medikamente bewilligt bekamen, obwohl es für ihre psychosoziale Situation verheerende Auswirkungen hatte. Ich weiß von einigen Personen, die ihren Job verloren haben, weil sie entweder ihre Substitutionsmittel nicht mit nach Hause bekamen, oder weil ihr Chef erfuhr, dass sie opiatabhängig sind. In solchen Fällen wird der Sinn des Programms zunichte gemacht. Anstatt zu psychosozialem Aufbau kommt es zu psychosozialem Abbau. Gar nicht gut.

Zu guter Letzt noch zum Thema Heroin-Substitution. Seit 2009 bietet auch Deutschland die diamorphingestützte Behandlung für Schwerstopiatabhängige an [5]. Viele deutsche Städte, allen voran meine geliebte Stadt Hamburg, haben mit ihrer Studie eindrucksvoll gezeigt, wie wirkungsvoll die Heroin-Substitution ist. Auch in der Schweiz gibt es schon seit der Kohortenstudie 1994 diese Form der Substitution.
Ich meine dazu nur: "Österreich wach auf." Lasst doch mal eure Vorurteile und Ideologien beiseite und seht euch die Fakten an - die sprechen doch eine klare Sprache. Wir sollten doch mal ehrlich sein: Ein sehr hoher Prozentsatz der Opiatabhängigen ist nur deshalb im österreichischen Substitutionsprogramm, weil sie retardierte Morphin-Tabletten intravenös konsumieren können. Warum müssen sich diese Personen damit langsam vergiften?! Und sie werden es tun, ob andere das wollen oder nicht - das bestimmt die Sucht. Warum gibt man ihnen nicht unter kontrollierten Bedingungen ihre Heroininjektion? Im Gegenzug wären viele dafür wahrscheinlich sogar bereit noch mehr Auflagen zu erfüllen, die sich die Gesellschaft von ihnen wünscht. Versteht ihr nicht? Kontrolle ist prinzipiell immer besser, als keine Kontrolle zu haben. Das gilt sowohl für die Substitution, als auch z.B. für die Legalisierung von Cannabis. Wisst ihr, was für mich persönlich Wahnsinn ist? Die Kommerzialisierung von Drogen! Alkohol, Zigaretten mit ihren ~4800 chemischen Stoffen (Ammoniak u.ä.)! Wo ist hier eine funktionierende Kontrolle? Ich sage dazu immer: "Es gibt wenig, das so verlogen ist, wie unsere Drogenpolitik"! Stellt euch einfach mal bildlich einen Priester vor, der in einer Messe einen heiligen Joint anbetet und einen Zug davon raucht - dann habt ihr ungefähr eine Ahnung von dem, was ich meine.

Nun gut, fassen wir jetzt nochmal zusammen. Meine ganze Kritik - inklusive des letzten Abschnitts - lässt sich tatsächlich auf nur einen Punkt bringen: Die Schulung und Weiterbildung für alle in der Substitutionstherapie beteiligten Personen - insbesondere der Substitutionsärzte - sollte weiter ausgebaut werden. Die derzeitigen Weiterbildungspflichten sind in vielen Fällen zu wenig. Ich kenne außerdem Ärzte, die diese Pflichten umgehen, indem sie ihre Assistentinnen zu Weiterbildungsveranstaltungen schicken. Was nützen Regeln, wenn ungenügend darauf geachtet wird, ob sie eingehalten werden?!
Andererseits sehe ich aber auch das noch größere Problem in den nach wie vor oft konservativen Einstellungen von Substitutionsärzten. Da gibt es Ärzte, die sehen Abhängige pauschal tatsächlich als 'Untermenschen' - ich musste das oft genug erleben. Da ist unter Umständen jede Weiterbildungsmaßnahme sinnlos - denn diese modernen wissenschaftlichen Ansichten wollen die doch gar nicht wahrhaben. Solche Ärzte sollte man ganz einfach aus dem Verkehr ziehen. Es gibt doch nicht umsonst die Verordnung, dass bei der Substitutionsbehandlung der "allgemein anerkannte Stand der medizinischen Wissenschaft" anzuwenden ist. Auch hier gilt: Was nützen Regeln, wenn zu wenig darauf geachtet wird, dass sie eingehalten werden?!

Aber nun genug kritisiert. Führen wir den Artikel zu einem versöhnlichen Ende: Menschen machen Fehler und das ist okay so. Wo wäre ich heute, hätte es das Substitutionsprogramm nicht gegeben? Vielleicht hätte ich mich mit gestrecktem Heroin vergiftet, oder ich wäre wegen Dealens von gestrecktem Heroin mehrere Jahre im Knast gelandet? Man weiß es nicht. Dass ich deshalb aber - und das ist sehr entscheidend - bereits früher von der Droge losgekommen wäre, ist eher unwahrscheinlich. Eine Abhängigkeit - so wurde mir längst klar - lässt sich nur über psychologische Weiterentwicklung überwinden, welche in der Praxis oft sehr langwierig ist. Und genau für diese Phase ist die Substitutionstherapie auch gemacht. 'Mal auf die Schnelle' geht hier gar nichts. Für diese benötigte Zeit aber sollte von allen Personen im Umfeld des Abhängigen möglichst großes Verständnis aufgebracht werden. Dies ist, meiner Meinung nach, einer der Schlüssel zum Weg aus der Abhängigkeit. Gut Ding braucht eben Weile.

Christoph Eller


[1] Deutschland - drogenbeauftragte.de

[2] Schweiz - suchtschweiz.ch

[3] Österreich - Bericht zur Drogensituation 2014

[4] laut dem Gesundheitsamt der Stadt Graz

[5] heroinstudie.de

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